Körperliche Aktivität bildete bereits vom Beginn der Evolution an einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Lebens. Frühe Hominiden wie der Australopithecus waren relative Kurzstreckenläufer, während der spätere Homo erectus vor allem ein Langstreckenläufer war. Dieser Menschentypus jagte Großwild wie Elefanten, Elche und Auerochsen. Die an den Treibjagden teilnehmenden Männer und Frauen waren imstande, über Stunden hinweg ausdauernd zu laufen, bis das gejagte Tier vor Erschöpfung zusammenbrach. Dazu mussten die Jäger eine Reihe von metabolischen Herausforderungen meistern. Wichtige Merkmale waren beispielsweise eine gute Thermoregulation, die Fähigkeit zur Teleoantizipation, eine effektive Desintoxikation von metabolischen Abfallprodukten, eine effiziente Zuteilung von Energieressourcen, die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung eines stabilen Blut-, Gewebe- und Mineralstoffgehalts im Körper und eine diesem Lebensstil entsprechende Art und Weise, Entscheidungen zu treffen.
Diese Herausforderungen verlangten dem damaligen Menschen zwar extrem viel ab, verbesserten jedoch zugleich den Überlebenserfolg und wurden daher bestimmende Faktoren der Evolution. Der heutige Mensch verdankt diesen formenden Einflüssen seine zweibeinige Art der Fortbewegung, die haarlose Haut, Schweißdrüsen (4 Millionen!) und seine dopaminerge Neuroanatomie. Außerdem wurden der Darm kürzer, die Muskelmasse geringer, der große Zeh kleiner und die Speicherung von Fett im Fettgewebe umfangreicher. Alle diese Anpassungen machten es möglich, dass die inneren Organe und der Bewegungsapparat weniger Energie verbrauchten, sodass das Gehirn des Homo erectus schließlich bis zur Größe des Gehirns des heutigen Homo sapiens anwachsen konnte.
Der Mensch verfügt über mehr als 600 Muskeln. Selbst wenn sie nicht aktiv sind, gehen etwa 25 % der Energie, die eine Person im Ruhezustand verbraucht, an die Muskeln. Der muskuläre Stoffwechsel reagiert unmittelbar auf jede Beanspruchung: Nur, wenn sie regelmäßig stimuliert werden, können sie ihre Aufgaben auf Dauer gut erfüllen. Werden Muskeln nicht benutzt, führt dies bereits nach kürzester Zeit zu Funktionsverlust und im Extremfall zu Muskelschwund.
Der menschliche Körper hat sich nicht in der sicheren, wenig stimulierenden Umgebung von Turnhallen oder Fußballplätzen entwickelt. Wie auch bei anderen Säugetieren hat sich der Körper im Kampf ums Überleben entwickelt. In jeder Phase der Evolution mussten die Menschen körperlich aktiv sein, um an Nahrung zu gelangen, indem sie jagten, sammelten und Wasser suchten. Wenn in der nächsten Umgebung keine Nahrung oder Wasser zur Verfügung standen, mussten die Menschen große Entfernungen zurücklegen, um sich zu versorgen. Auch bei den heute noch existierenden Fischer-, Jäger- und Sammlerpopulationen herrschen noch immer dieselben Bedingungen . Beobachtungen unter diesen modernen Fischern, Jägern und Sammlern ermöglichen es, die durchschnittliche tägliche körperliche Aktivität abzuschätzen, die früher für die Menschen den Normwert bildete. Basierend auf diesen Untersuchungen wurde festgestellt, dass der durchschnittliche Jäger und Sammler etwa 30-40 Kilometer oder 5 bis 6 Stunden pro Tag in Bewegung war . Dies tat er jedoch nicht, wenn es nicht unbedingt notwendig war, sondern nur, wenn dringend neue Energiequellen benötigt wurden. Dieser Umstand berechtigt zur Annahme, dass die durchschnittliche Bewegung in manche Tage mit sehr viel und in andere Tage mit praktisch keiner Bewegung unterteilt werden sollte. Geriet der Mensch jedoch erst einmal in Bewegung, konnte er dies sehr lange durchhalten.
Auch heute noch gibt es Fischer-, Jäger- und Sammlerpopulationen, die unwegsames Gelände durchwandern und dabei täglich mehr als 80-100 Kilometer zurücklegen . Die durchschnittliche körperliche Aktivität des heutigen westlichen Menschen ist viel geringer. In den letzten paar Jahrtausenden hat die körperliche Aktivität drastisch abgenommen. Bei der Suche nach den geeignetsten Lebensbedingungen für den Menschen muss man daher bis zu den „conditions of existence“ der menschlichen Vorfahren zurückgehen , , . Sie lebten über lange Zeiträume in einer Umgebung, in der der Mensch ständig auf der Hut vor Bedrohungen aller Art sein musste. Raubtiere, Hunger und Krankheiten waren eine alltägliche Realität, mit der der Mensch 24 Stunden am Tag konfrontiert wurde. Dieses stresserfüllte Umfeld hat damals jedoch nicht wie heute zu einer Epidemie westlicher Krankheiten wie Depressionen, Adipositas und anderer sogenannter Zivilisationskrankheiten geführt. Ein wichtiger Grund dafür liegt eben gerade in der körperlichen Aktivität, die im Kampf ums Überleben unerlässlich war. Diese körperliche Aktivität zeigt sich auch heute noch bei rezenten Fischer-, Jäger- und Sammlerpopulationen. Deren körperliche Kondition erweist sich daher auch als wesentlich besser als die des modernen westlichen Menschen. Der Umfang der körperlichen Aktivität liegt bei modernen Fischern, Jägern und Sammlern in etwa auf dem gleichen Niveau wie in der Altsteinzeit. Im Vergleich zu Fischern, Jägern und Sammlern macht die tägliche körperliche Aktivität in den westlichen Ländern nur noch etwa ein Drittel des Energieverbrauchs aus .
Stress bestand in der Altsteinzeit hauptsächlich aus Faktoren (Kälte, Hitze, Gefahr, Hunger, Durst usw.), die eine körperliche Reaktion (Kampf oder Flucht) erforderten. Auch die Bewegung spielte eine große Rolle bei der Stressreaktion. Im Gegensatz zur Altsteinzeit setzt sich Stress heutzutage vor allem aus emotionalen, beruflichen und sozialen Faktoren zusammen. Diese können jedoch dieselbe körperliche Stressreaktion auslösen wie die alten Stressfaktoren. Selbst eingebildete Gefahren können zu einer körperlichen Kampf-Flucht-Reaktion führen . Die moderne Belastung durch Stresssysteme wird jedoch nicht mehr von der nachfolgenden körperlichen Aktivität begleitet, die zum Kämpfen oder Fliehen erforderlich ist. Die Energie, die durch die Stressreaktionen freigesetzt wird, um physische Aktionen durchzuführen, wird, wenn diese Aktionen ausbleiben, im Körper in Form von viszeralem Fett gespeichert , . Menschen, die sich über einen ausreichend langen Zeitraum regelmäßig bewegen, weisen bei der Reaktion auf Stressereignisse niedrigere Cortisol- und Katecholaminspiegel auf . Stresstoleranz korreliert mit der Expression neuronaler Gene. Genexpression umfasst epigenetische Prozesse wie Methylierung (Inaktivierung) und Demethylierung (Aktivierung) von DNA sowie Acetylierung (Aktivierung) und Deacetylierung (Inaktivierung) von Histonen. Studien an Nagetieren haben gezeigt, dass Bewegung signifikante Veränderungen in diesen epigenetischen Prozessen bewirkt: Körperliche Aktivität beeinflusst die epigenetischen Reaktionen auf Stresstoleranz .
Stressreaktionen, die mit Änderungen der Energienachfrage verbunden sind, finden statt, um dem kämpfenden oder fliehenden Individuum die für das Überleben notwendigen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen , . Dies hat sich in der gesamten menschlichen Evolution stets als vorteilhaft erwiesen. Die Stresssysteme des Menschen sind darauf abgestimmt und reagieren auch heute noch genauso, da eine Anpassung Tausende von Generationen dauern kann . Stressrelevante Ereignisse sind in der modernen Welt oft durch einen reduzierten oder fehlenden Energiebedarf gekennzeichnet, während nach wie vor Gluconeogenese erfolgt. Dies führt zu einem verminderten oder ausbleibenden Energieverbrauch, woraufhin die nicht benötigte, freigesetzte Glucose hauptsächlich als viszerales Fett gespeichert wird.
Das „Pull“-System, das auf dem „Anziehen“ von Energie beruht, veranlasst Organsysteme wie Gehirn, Fettgewebe und Muskeln zu spontaner Aktivität zum Zwecke der Energiesuche: Beschaffungsverhalten. Dies kann sich zum Beispiel darin äußern, dass der Mensch auf die Suche nach Energie (Nahrung und Wasser) geht, gefundene Quellen konsumiert und dadurch die Energiemenge im Blutkreislauf erhöht. Die so gewonnene Energie wird dann in einer hierarchischen Reihenfolge an verschiedene Gewebe abgegeben. Das Gehirn, das fast 65 % der gesamten zirkulierenden Glucose verbraucht, ist das Organ, das zuerst versorgt werden muss. Bei einer durchschnittlichen Glucoseaufnahme von 200 Gramm/Tag verbraucht das Gehirn je nach neurologischer Aktivität 130 Gramm/Tag (weniger am Abend, viel mehr am Morgen). Die Nutzung von Neuronen für anspruchsvolle kognitive Aufgaben erhöht den Energie-„Pull“ des Gehirns beträchtlich; dies bezeichnet man als „energy demand“ (Energienachfrage).
Auch Herz, Muskeln, Nieren und Leber gelten als besonders teure Organe. Bei chronischer Knappheit (Hungersnot) können diese Organe jedoch bis zu 40 % ihres Volumens verlieren, während das Gehirn kaum abnimmt oder gar relativ zunimmt – ein deutliches Beispiel für die bevorzugte Stellung des Gehirns in der obengenannten Hierarchie der Energieverteilung. Muskeln und Fett regulieren die „Pull“-Systeme durch Bildung von Insulin bzw. Leptin. Über die Insulinbildung wird das Gehirn kurzfristig über die periphere Energiesituation informiert, während Leptin, das von Adipocyten und Astrocyten im Gehirn gebildet wird, als Indikator für die längerfristige Energiesituation betrachtet werden kann. Diese Energieverteilungssysteme haben sich beim Menschen über 65.000 Generationen hin bis zur Jetztzeit entwickelt. Gesundheit liegt dann vor, wenn gut funktionierende „Pull“-Mechanismen dafür sorgen, dass bei Bedarf Energie ins Gehirn gezogen wird und der Körper nicht auf „Push“-Mechanismen umschalten muss, um die Energie sozusagen ins Gehirn „hineinzudrücken“. Die Lösung zur Wiederherstellung defizienter „Pull“-Mechanismen besteht darin, sich so zu bewegen, wie es die fernen menschlichen Vorfahren taten: nüchtern und mit Fett als Hauptbrennstoff. In diesem Fall ist der Körper gezwungen, auf die gespeicherten Fettvorräte zurückzugreifen, da kein externer Brennstoff zur Verfügung steht.
Das Überleben des Homo sapiens hing während der Evolution davon ab, dass genügend Nahrung gefunden werden konnte, was wiederum körperliche Aktivität notwendig machte. Die Versorgung mit Nahrung war dabei jedoch niemals konstant. Die alten Fischer, Jäger und Sammler kannten Zyklen von Überfluss und Mangel, die mit abwechselnden Perioden körperlicher Aktivität und Ruhe korrelierten. Damit er Zeiten des Nahrungsmangels überleben kann, haben sich beim Menschen bestimmte Gene entwickelt, die die effiziente Aufnahme und Nutzung von Brennstoff regeln. Es gibt überzeugende Beweise dafür, dass dieser Teil des Genoms in den letzten 10.000 Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben ist und sich in den letzten 40 bis 100 Jahren ganz gewiss nicht verändert hat. Obwohl die absolute Kalorienzufuhr des modernen Menschen wahrscheinlich niedriger ist als die seiner Vorfahren, ist die relative Kalorienbilanz (Zufuhr minus Verbrauch) positiv. Dies ist vor allem auf die Ausbreitung des sedentären Lebensstils in der heutigen Gesellschaft zurückzuführen. Die Kombination aus kontinuierlichem Nahrungsangebot und körperlicher Inaktivität führt dazu, dass evolutionär programmierte biochemische Zyklen, die auf dem Wechsel zwischen Überfluss und Mangel sowie zwischen körperlicher Aktivität und Ruhe beruhen, überflüssig geworden sind. Dies wiederum beeinflusst die Zyklen bestimmter metabolischer Prozesse, was schließlich zu metabolischen Störungen wie Adipositas und Typ-2-Diabetes führt. Bewegung kann eine entscheidende Rolle dabei spielen, Stoffwechselprozesse aus festgefahrenen Bahnen zu befreien, indem sie die Regulation von „physischen Aktivitätsgenen“ anregt. Angesichts der fast unbegrenzten Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in den westlichen Industrieländern ist es heutzutage unwahrscheinlich, dass die hier lebenden Menschen jemals einer Hungersnot ausgesetzt sein werden. Genauso wenig werden sie wahrscheinlich in der Lage sein, mit drastischen Kalorienreduzierungen leben zu können. Daher besteht logischerweise die am ehesten Erfolg versprechende Möglichkeit, den Zyklus der Stoffwechselprozesse mit ihrer evolutionären Absicht in Einklang zu bringen, ausreichende körperliche Aktivität anzubieten. Körperliche Aktivität kann zur Aufnahme und Verstoffwechselung von Glucose und Fett durch die Skelettmuskulatur beitragen, was zur Wiederherstellung der physiologischen Genexpressionen der „sparsamen“ Gene führt. Dadurch wird gewährleistet, dass sich Stoffwechselprozesse nicht festfahren und zu einer pathologischen Anhäufung von Brennstoffvorräten führen .
Evolutionär gesehen, war Mangel an Energie stets eine der Triebkräfte für Bewegung. Energiemangel, der sich als vom Gehirn gesteuertes Hungergefühl („Pull“) bemerkbar macht, löst spontane Aktivität aus: Nahrungssuche. Bewegung (nüchtern!) ging somit der Aufnahme von Energie in Form von Nahrung voraus. Gleichzeitig regulierte nüchterne Bewegung die Energiesignalisierung und -verteilung mittels Insulin und Leptin. Das Motiv für nüchterne Bewegung aufgrund von Energiemangel fehlt heute, weil wir keine Anstrengungen mehr unternehmen müssen, um Nahrung zu finden. Sobald ein Hungergefühl auftritt, wird es sofort mit dem gestillt, was in Kühlschrank und Speisekammer bereitsteht. Dies kann zu einer Störung der durch Insulin und Leptin gesteuerten Energiesignalisierung und -verteilung führen. Nüchterne Bewegung kann helfen, diese Systeme wiederherzustellen und damit die Energieverteilung zu verbessern.
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Eaton S., An evolutionary perspective on human physical activity: implications for health Comparative Biochemistry and Physiology Part A 136, 2003, 153-159
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Tsatsoulis A., The Protective Role of Exercise on Stress System Dysregulation and Comorbidities Ann. N.Y. Acad. Sci. 1083: 196–213 (2006)
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