Die Geheimwaffe von SARS-CoV-2 ist ein sogenanntes „Spike-Protein“ auf der Oberfläche des Virus, mit dem es an unsere Körperzellen andocken kann. Dieses Spike-Protein scheint durch das Enzym Furin über eine Furin-Bindungsstelle aktiviert zu werden. Furin kommt auf fast allen Zellmembranen menschlicher Zellen vor, insbesondere auf denen der Lunge, der Leber und des Dünndarms. SARS-CoV-2 kann daher nicht nur gut mit seinen Spike-Proteinen binden, sondern auch schon während des Bindungsvorgangs aktiviert werden, sodass es in vielen menschlichen Gewebstypen leicht und schnell tätig werden kann. Ein weiterer Grund, warum sich das Virus so schnell verbreiten kann, besteht darin, dass das Virus anscheinend mit sehr hoher Affinität (zehnmal stärker als SARS-CoV) an den ACE2- (Angiotensin-konvertierendes Enzym 2-) Rezeptor von Körperzellen bindet. Das Virus scheint also mehrere Methoden zu nutzen, um sich schnell zu verbreiten.
Ein aktiviertes SARS-CoV-2-Virus kann daher heftige Immunreaktionen hervorrufen. Es kann das NLRP3-Inflammasom aktivieren und dadurch eine schwere Immunreaktion mit einem potenziell tödlichen „Cytokinsturm“ auslösen. Inflammasome sind ein Bestandteil unseres angeborenen Immunsystems: Sie sind bestehen aus Multiproteinoligomeren, die Entzündungsreaktionen vermitteln. Das NLRP3-Inflammasom wird durch das NLRP3-Gen reguliert. Dieses Gen kann mithilfe von Mustererkennungsrezeptoren (PRRs) wie zum Beispiel Toll-like-Rezeptoren (TLRs) molekulare Muster wahrnehmen, die mit einer potenziellen Gefahr assoziiert sind. Dies sind die sogenannten Danger Associated Molecular Patterns (DAMPs) oder Pathogen Associated Molecular Patterns (PAMPs). DAMPs und PAMPs können das NLRP3-Gen und somit das Inflammasom aktivieren. Die Aktivierung eines solchen Inflammasoms bewirkt eine Freisetzung großer Mengen von proinflammatorischen Interleukinen, die eine Entzündung auslösen, um den Eindringling zu bekämpfen. Im Fall von SARS-CoV-2 wird hauptsächlich Interleukin 1ß (IL-1ß) gebildet, eines der stärksten proinflammatorischen Cytokine des menschlichen Körpers. Das NLRP3-Inflammasom kann schwere Atemwegsbeschwerden verursachen: Acute Distress Respiratory Syndrome (ADRS) und Acute Lung Injury (ALI), die zu (schweren) Lungenentzündungen führen können.
Bei der Epidemiologie des SARS-CoV-2-Virus fällt auf, dass das Virus Kinder unter 9 Jahren offenbar fast völlig verschont. Bei Kindern über 9 Jahren scheint die Infektion so gut wie immer mild zu verlaufen. Ganz anders sieht es bei älteren Menschen aus: Sie sind offenbar sehr viel anfälliger für das Virus und die Folgen einer Infektion können bei ihnen wesentlich schwerwiegender sein. Nun stellt sich natürlich die Frage: Wie ist das zu erklären?
Eine interessanter Ansatz zur Erklärung der Tatsache, dass Kinder kaum und ältere Menschen stärker vom Virus betroffen sind, könnte auf Unterschieden der Melatoninbildung bei diesen beiden Gruppen beruhen. Melatonin spielt eine Rolle beim Bremsen des NLRP3-Inflammasoms. Es setzt direkt beim Toll-like-Rezeptor 2 (TLR2) an, der das NLRP3-Inflammasom aktiviert, und hemmt dadurch eine übermäßige Immunreaktion. Dies kann schwerere Atemwegsschäden, die als Folge einer Infektion mit dem neuen Coronavirus auftreten können, verhindern. Ein weiterer Weg, über den Melatonin an der Abwehr des SARS-CoV-2-Virus beteiligt ist, ist die Hemmung der Expression von ACE2-Rezeptoren auf den Membranen menschlicher Körperzellen. Melatonin hemmt Calmodulin und es ist bekannt, dass Calmodulin-Hemmer die Trennung von ACE2 von der Zelle bewirken. Eine Verringerung des auf der Zellmembran vorhandenen ACE2 bedeutet eine Verringerung der Andockmöglichkeiten für SARS-CoV-2. Medikamente wie Ibuprofen (ein NSAR) können hingegen die Expression von ACE2 auf Zellmembranen in der Tat erhöhen.
Eine optimale Melatoninbildung scheint daher in der Lage zu sein, zum Schutz vor schwerwiegenden Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion beizutragen. So haben Geng-Chin Wu et al. (2020) bereits gezeigt, dass der Einsatz eines Melatonin-Rezeptor-Agonisten die durch künstliche Beatmung aufgrund einer SARS-CoV-2-Infektion verursachten Schäden verringern oder verhindern kann. Im Vergleich zu Erwachsenen bilden kleine Kinder viel mehr Melatonin: ungefähr zehnmal so viel. Die Melatoninbildung lässt im Laufe des Lebens nach. Dies könnte erklären, warum bei älteren Menschen das NLRP3-Inflammasom und damit die Immunreaktion gegen das Coronavirus um ein Vielfaches stärker aktiviert werden als bei Kindern – mit den bekannten schwerwiegenden Folgen.
Vor diesem Hintergrund könnten präventive Lebensstilmaßnahmen zur Förderung der körpereigenen Melatoninbildung effektiv zur Verringerung der Schwere der Folgen einer Coronavirusinfektion beitragen. Dabei sollte an den Verzehr von tryptophan- und melatoninreichen Nahrungsmitteln wie (reife) Tomaten, Bananen, Truthahn und Huhn gedacht werden. Am Abend sollte nicht zu spät und üppig gegessen werden, auf Sport sollte abends verzichtet werden, in den zwei Stunden vor dem Schlafengehen sollte für ausreichende Entspannung und gedämpftes Licht gesorgt werden, der Gebrauch von Computer- und Smartphone-Displays sowie übermäßiges Fernsehen sollten zum Abend hin eingeschränkt werden und es sollte für ein gut gelüftetes, nicht zu warmes Schlafzimmer gesorgt werden. Auch die Supplementierung von körpereigenem Melatonin kann hierbei eine Option darstellen. Die Verwendung von Melatoninsupplementierung ist sicher. Die Dosen können zwischen 0,2 bis 0,5 mg für die präventive Anwendung und bis zu 50 mg für die kurative (kurzfristige) Anwendung variieren (Loh, D. (2020)). Dosen in Höhe von Dutzenden von Milligramm können problemlos über kürzere Zeiträume eingenommen werden.